»Die Aber kosten Überlegung.«Emilia Galotti

Start | Lessing-Preis für Kritik

Der Lessing-Preis für Kritik wird seit dem Jahr 2000 alle zwei Jahre gemeinsam von der Lessing-Akademie und der Braunschweigischen Stiftung verliehen. Seit dem Jahr 2019 ist als dritte preisvergebende Einrichtung auch die Stadt Wolfenbüttel beteiligt. Mit dem Preis wird, nach dem Vorbild Lessings, Kritik in einem elementaren, fachübergreifenden, auch gesellschaftlich wirksamen Sinn ausgezeichnet: Kritik als bedeutende, geistig und institutionell unabhängige, risikofreudige Leistung.

Zur Besonderheit des Preises zählt, dass die Preisträgerin bzw. der Preisträger eine Förderpreisträgerin bzw. einen Förderpreisträger eigener Wahl bestimmt. Dotiert ist der Preis mit insgesamt 20.000 (15.000 + 5.000) Euro.

Die Preisverleihungen im Überblick

Jury-Begründung zur Vergabe des Lessing-Preises für Kritik 2022 an Vanessa Vu

Mit dem Lessing-Preis für Kritik zeichnet die Jury eine junge, vielseitig aktive Journalistin aus, die sich mit einem scharfen, aufmerksamen Blick nah am Puls der Zeit bewegt. Vanessa Vu, in Deutschland als Kind vietnamesischer Einwanderer geboren, bringt in ihren Texten, Podcasts und Gesprächsreihen unerzählte Geschichte zu Gehör und lotet dabei die Untiefen des gesellschaftlich scheinbar Selbstverständlichen aus. Mutig, bereichernd und pointiert konturiert sie über den Horizont eigener Erfahrungen hinaus das Gesicht der viet-deutschen ›Generation 1991‹.

Die Vielschichtigkeit der Stimmen, die sie ohne Vorbehalt zu Wort kommen lässt, ihre ‒ mit Lessing gesprochen ‒ »aufrichtige Mühe« um Offenlegung von Herkunft, Rassismus und Diskriminierung sowie ihr Gespür, die Bedürfnisse einer medienbewussten Gesellschaft zu hinterfragen, finden in Lessings wissbegieriger, beweglicher und unvoreingenommener Haltung ihren Widerhall. Mit ihrer journalistischen Arbeit tritt Vanessa Vu entschlossen für inklusive Erzählweisen ein, ohne die Besonnenheit kritischen Fragens aus den Augen zu verlieren.

Förderpreisträger: Moshtari Hilal und Sinthujan Varatharajah

Jury-Begründung zur Vergabe des Lessing-Preises für Kritik 2020 an Ines Geipel

Den Lessing-Preis für Kritik 2020 erhält die Schriftstellerin und Publizistin Ines Geipel. Bekannt geworden als Spitzensportlerin der DDR wurde sie eine scharfe Kritikerin jeder Form des Dopings. Ihre eigene Sportkarriere musste sie nach Zersetzungsmaßnahmen der Staatssicherheit beenden.

Vom schmerzhaften Ausgangspunkt der eigenen Erfahrung sind das Verschweigen und Verdrängen mit ihren psychosozialen Folgen zum Untersuchungsfeld Ines Geipels geworden. In ihren Romanen, Essays und literarischen Sachbüchern hat sie es verstanden, die Erfahrungen des Einzelnen in ihrer politisch-historischen Dimension und als Resonanzraum für die Gegenwart zu erörtern.

Die Sprache ihrer Bücher – eine in kurzen Sätzen gehaltene »brillante Prosa« (Rainer Moritz) – bricht das Schweigen über Erfahrungen, die nicht nur den Einzelnen betreffen; ihre Texte rekonstruieren diese Erfahrungen als gesellschaftliche Psychogramme. Mit der Macht der Ideologie in wörtlicher, schmerzhafter, körperlicher Weise in Berührung gekommen, begegnet die Autorin dem Zusammenhang von Verdrängung und Gewalt mit prägnanten, hochoriginellen Formen der Aufarbeitung.

Ihre Texte, oft konkret von körperlichen Verletzungen ausgehend, verfolgen deren Wirkung auf das Leben des Einzelnen wie der Gemeinschaft. Es sind ungewöhnlich mehrdimensionale Anregungen zur Selbstverständigung einer in vielen Fragen gespaltenen Bevölkerung. Sie erhellen deren aktuelle Verunsicherungen und die Unversöhnlichkeit ihrer Auseinandersetzungen bis tief in den Seelenzustand der Gesellschaft hinein. Ines Geipels Werk übt eine, im eigentlichen Sinn der Aufklärung nicht rationalistisch verkürzte, am Konzept des ganzen Menschen orientierte Kritik.

Förderpreisträgerinnen: Margarita Maslyukova, Ekaterina Melnikova und Ekaterina Pavlenko (Memorial)

Jury-Begründung zur Vergabe des Lessing-Preises für Kritik 2018 an Elizabeth T. Spira

Die in Glasgow geborene österreichische Dokumentarfilmerin und Publizistin Elizabeth T. Spira hat durch ihre Reportage-Reihen Alltagsgeschichte (1985-2006) sowie Liebesg’schichten und Heiratssachen (seit 1997) einen Ruf als »Jahrhundertfigur fürs Fernsehen« erlangt. Beide Sendereihen zeigen, wie eng schneidende Kritik und bedeutender Publikumserfolg zusammenwirken können.

Die Grande Dame einer schonungslosen österreichischen Selbstbetrachtung in der Tradition von Autoren wie Thomas Bernhard oder Elfriede Jelinek beweist durch ihre Filme das einzigartige Talent, Menschen zum Sprechen zu bringen und Gegenstände beredt zu machen. Die Personen ihrer Filme bilden ein großes Spektrum der österreichischen Gesellschaft ab, nicht selten sind es Menschen aus sozial einfachen Verhältnissen, häufig Außenseiterexistenzen.

Die Filme von Elizabeth T. Spira beschönigen nichts und verdecken keine menschlichen Schwächen. Aber sie führen ihr Personal auch nicht vor und geben es nicht der Lächerlichkeit preis. Dies erinnert an Lessing, der in seiner »Hamburgischen Dramaturgie« das Lachen an die Stelle des Verlachens gesetzt hat. Zugleich liegt in Spiras Darstellung menschlicher Einsamkeit, der Suche nach Glück, Gemeinschaft und Geborgenheit auch stets ein untilgbares Moment von Hoffnung und Utopie.

Förderpreisträgerin: Stefanie Panzenböck

Jury-Begründung zur Vergabe des Lessing-Preises für Kritik 2016 an Dieter Wieland

Der Dokumentarfilmregisseur und Autor Dieter Wieland hat seit den frühen 70er Jah­ren mit einer großen Zahl von Filmen auf einzigartige Weise Architektur- und Bebau­ungskritik geübt und dabei ein genaues Schauen auf die Sache und intellektuelle Kritik miteinander verbunden. In ruhiger und unaufdringlicher Kameraführung kombinieren seine Filme die Ästhetik des unabhängigen Dokumentarfilms mit der Tradition baye­risch-österreichische Sprachkritik. Die Dokumentation von Landschaftszersiedelung und Dorfzerstö­rung, der Unwirtlichkeit der Städte und der gesichtslosen Bausünden der Architektur greift weit über die Hei­matpflege in allgemeine Kulturkritik aus. Wie nebenbei erhält der Zuschauer eine gründliche und präzise, kulturhistorisch fundierte Unterweisung über die Zusammen­hänge von Geschichte, Politik und Landschaft, Gesellschaftsstruk­tur und Formbe­wusstsein.

Dieter Wieland hat das Medium des Fernsehens als kritisches Genre für den Erhalt gewachsener Lebensräume genutzt, ohne persönlich zu verletzen. An Lessings publi­zistisches Werk erinnern die Unabhängigkeit und Sicherheit seines Urteils, der Kampf gegen institutionalisierte Borniertheit, der grundsätzliche Anspruch auf Öffentlichkeit und sein Wirken als Autor. Dieter Wielands Schaffen ist anzuerkennen als eine durch ihre Form und ihren Weitblick in die Gesellschaft anhaltend wirkende Kritik.

Förderpreisträger: Thies Marsen

Jury-Begründung zur Vergabe des Lessing-Preises für Kritik 2014 an Hans-Ulrich Wehler

Der Historiker Hans-Ulrich Wehler hat weit über die Grenzen des Fachs hinaus seit vielen Jahren wichtige gesellschaftskritische Debatten in der Bundesrepublik angestoßen, begleitet und weitergeführt. Seine wissenschaftliche Arbeit entspricht seinem Rang im öffentlichen Diskurs, den er auf zahlreichen Gebieten befruchtet hat. Stets hat Wehler Position bezogen, seine Standpunkte dezidiert, leidenschaftlich und polemisch vorgetragen.

Führend war seine Rolle in bedeutenden Debatten wie dem ›Historikerstreit‹, der Diskussion über Goldhagens Hitlers willige Vollstrecker oder Sarrazins Deutschland schafft sich ab. Aufmerksamkeit, auch entschiedenen Widerspruch, hat Wehlers Auffassung über den EU-Beitritt der Türkei im Jahr 2002 erregt. Themen wie die Aufarbeitung des Nationalsozialismus, die Holocaust-Leugnung, die Nationalismus– und Migrationsproblematik oder die soziale Ungleichheit in Deutschland wurden durch seine Beiträge bereichert. Große öffentliche Resonanz fand zuletzt sein Buch Die Neue Umverteilung.

Das öffentlich geführte kritische Gespräch verbindet Wehler auch mit dem Namensgeber des Preises. Beider Auffassungen sind vorurteilsfrei, pointiert und unkonventionell. Mehrfach zitiert Hans-Ulrich Wehler Lessings skeptisches Wort, daß auch die »bürgerliche Gesellschaft die Menschen nicht vereinigen« könne, »ohne sie zu trennen«. In diesem Verzicht auf eine wohlfeile Versöhnung liegt auch die Kontinuität des Kritikgedankens.

Förderpreisträger: Albrecht von Lucke

Jury-Begründung zur Vergabe des Lessing-Preises für Kritik 2012 an Claus Peymann

Mit Claus Peymann ehrt die Jury einen ebenso unbequemen wie ideenreichen Künstler, dessen Theater sich vielfach mit Lessings Schauspielprojekten berührt. Gesellschaftliche Themen im Medium des Theaters reflektierend, versteht Peymann das Theater noch immer als moralische Einrichtung und glaubt an die Erziehbarkeit des Menschen durch die Kunst. Er stellt, wie Lessing im Projekt eines Deutschen Nationaltheaters, Themen und Formen der aktuellen Literatur in den Mittelpunkt seines Schaffens. Sein präzises und von großer Spielfreude zeugendes Regiewerk ist auch mit den Inszenierungen der klassischen Dramenliteratur von Shakespeare über Lessing und Goethe bis hin zu Brecht unabhängig geblieben. Dabei hat die Arbeit an allen Orten seines Wirkens gesellschaftspolitische Diskussionen aufgenommen und zugespitzt.

Claus Peymann hat, Kritik übend, Kritik provozierend und der Kritik sich aussetzend, öffentliche Kontroversen auch außerhalb des Theaters gesucht. Er hat sich über die Jahre hinweg in streitbarer Weise immer wieder auch politisch exponiert, dafür Anfeindungen und persönliche Risiken in Kauf genommen. Nicht zufällig hat er Lessings Wort von seiner »alten Kanzel, dem Theater« aufgenommen und diese kritische Idee in seiner Bühnenarbeit zur Wirkung gebracht.

Förderpreisträgerin: RambaZamba Theater (Nele Winkler)

Jury-Begründung zur Vergabe des Lessing-Preises für Kritik 2010 an Kurt Flasch

Mit dem Philosophen Kurt Flasch wird ein leidenschaftlicher Denker geehrt, der die spätantike und mittelalterliche Philosophie für die Gegenwart neu erschlossen hat. Seine einzigartige Vertrautheit mit dieser Epoche hat zuletzt das im Jahr 2008 erschienene Werk Kampfplätze der Philosophie unter dem Aspekt der »Großen Kontroversen von Augustinus bis Voltaire« unter Beweis gestellt.

Kurt Flaschs von keiner Schulrichtung bestimmte Fragestellungen zeichnen sich durch ihre Unabhängigkeit und Originalität aus. Sie fordern die kritische Einlassung mit der Gesellschaft und ihren politischen Instanzen. Philosophie darf praktisch sein und soll sich aktuellen Problemen stellen. Witz und Esprit der Lehrveranstaltungen und öffentlichen Vorträge von Kurt Flasch sind legendär. Es ist ihm damit immer wieder gelungen, auch junge Menschen für seine unkonventionellen Themen zu begeistern.

Mit Lessing verbindet den Philosophen die Überzeugung, Wahrheit nicht als ›Besitz‹ zu verstehen. Wie der Aufklärer entwickelt er seine Themen aus den weitgespannten Zusammenhängen der Geistesgeschichte. Auch Flaschs Leitmotiv, intellektuelle Auseinandersetzungen als den wesentlichen Antrieb der Philosophie zu verstehen, erinnert an den Aufklärer, dessen Namen dieser Preis trägt.

Förderpreisträgerin: Fiorella Retucci

Jury-Begründung zur Vergabe des Lessing-Preises für Kritik 2008 an Peter Sloterdijk

Mit dem 1947 in Karlsruhe geborenen Peter Sloterdijk ehrt die Jury einen der wenigen auch einer größeren Öffentlichkeit bekannten philosophischen Denker im deutschen Sprachraum. Auf perspektivenreiche, risikobereite, oft auch provokative Weise betritt Sloterdijk immer wieder neue Denkräume, bereichert den öffentlichen Diskurs um eine eindrucksvolle Bandbreite von Themen und Lesarten. Bemerkenswert erscheint neben Sloterdijks großer kritischer Unabhängigkeit und der Eigenwilligkeit seiner Denkvorstöße auch seine Darstellungsgabe mit ihren polemischen Zuspitzungen, Sprachspielen, blendenden Formulierungen und ironischen Qualitäten.

Sloterdijks Provokationslust, seine Wandlungsfähigkeit, nicht zuletzt auch seine Medienpräsenz haben zur Umstrittenheit der von ihm vertretenen Positionen beigetragen. Beginnend mit der 1983 erschienenen Kritik der zynischen Vernunft, über das dreibändige Opus magnum Sphären (1998-2002), bis zu Zorn und Zeit (2006), einer phänomenologischen Studie zu den spätkapitalistischen Mangel- und Gier-Gesellschaften, beweist Sloterdijk immer wieder ein erstaunliches Vermögen, Themen aufzugreifen, die ‒ scheinbar in der Luft liegend ‒ dank ihrer kritischen Durchdringung schon nach kurzer Zeit Gegenstand öffentlicher Diskussion werden.

In seiner neuesten Publikation Gottes Eifer. Vom Kampf der drei Monotheismen (2007) greift Sloterdijk Lessings ›Ringparabel‹ auf als Versuch der »Domestikation der Monotheismen aus dem Geist der guten Gesellschaft« und begegnet den Intoleranzerscheinungen des Nahen Ostens und Europas mit dem Plädoyer für eine wechselseitige Anerkennung des Anderen, die in einer gegenseitigen Zivilisierung der Kulturen ihren Ausdruck finden könnte.

Förderpreisträger: Dietmar Dath

Jury-Begründung zur Vergabe des Lessing-Preises für Kritik 2006 an Moshe Zimmermann

Mit Moshe Zimmermann wird ein kritischer Historiker der Neueren Geschichte geehrt, dessen Arbeiten – vor allem zur Geschichte von Deutschen und Juden seit der Aufklärung bis in die Gegenwart – ebenso wie seine öffentlichen Stellungnah­men zu aktuellen Ereignissen große Beachtung finden und in der deutschen und israelischen Öffentlichkeit häufig kontrovers diskutiert werden. Sein Bemühen, die tiefreichenden Wurzeln geschichtlicher Vorgänge bloßzulegen, und die Unabhän­gigkeit seines Urteils entsprechen der Haltung Lessings, die kein Vor-Urteil und kein Denkklischee gelten ließ. Die Vernünftigkeit und Standfestigkeit seiner Argu­mentation, ihre Fairness und Besonnenheit und nicht zuletzt der Mut, mit dem Zimmermann für sie einsteht, erinnern an den Aufklärer, dessen Namen dieser Preis trägt.

Förderpreisträger: Sayed Kashua

Jury-Begründung zur Vergabe des Lessing-Preises für Kritik 2004 an Elfriede Jelinek

Das vielfältige Werk der Schriftstellerin geht in seiner Radikalität über die geläufigen Formen der Sprach-, Medien- und Gesellschaftskritik hinaus und wehrt sich gegen die bedrückende Allgegenwart gesellschaftlicher und privater Domestizierung. Wie bei Lessing zeugen ihre Texte von unabhängigem Denken und persönlicher Risikobereitschaft; wie bei ihm beziehen sie Stellung und greifen an. Ihre Polemik ist voller Kraft und geprägt durch einen Furor, der sich aus zupackender Analyse und einem scharfen Gehör ebenso speist wie aus Formenreichtum, Phantasie und einer hochmusikalischen Rhetorik.

Förderpreisträger: Antonio Fian

Jury-Begründung zur Vergabe des Lessing-Preises für Kritik 2002 an Alexander Kluge

Bereits in seinen ersten literarischen Veröffentlichungen, den Lebensläufen von 1962 und der Schlachtbeschreibung von 1964, hat sich der 1932 in Halberstadt geborene Autor und Filmemacher Alexander Kluge als kritischer, hellsichtiger und aufkläreri­scher Zeitgenosse gezeigt. Von Beginn an war die seinem Schaffen inhärente Kritik konstruktiv und dialogisch, nie plakativ. Sie beschränkt sich nicht auf gesellschaftli­che Mißstände der Bundesrepublik, gar auf deutsche Befindlichkeiten, sondern greift immer wieder in die deutsche Vergangenheit aus, vor allem in die Zeit des Nationalsozialismus, aber auch des 18. Jahrhunderts, dessen emanzipatorischen Charakter Kluge betont.

Schon früh hat sich der promovierte Jurist neben der Literatur auch anderer Me­dien bedient, vor allem des Filmes, dem er ganz neue Fragestellungen hinzugewon­nen hat. Als wegweisend darf sein Versuch gelten, mit unabhängigen Fernsehmaga­zinen, sogenannten »Fensterprogrammen«, ein »Fernsehen der Autoren« zu etablie­ren. Daß er seine eigenen Medien nicht schont, zeugt von der Unabhängigkeit und Selbstreflexivität seiner Kritik.

Kluges vielschichtiges Werk zeichnet sich – darin, wie in seinem durchgängigen Dialogcharakter dem Werk Lessings von fern vergleichbar – durch die Einheit äs­thetischer und theoretischer Momente aus. Der Begriff des Eigensinns, entwickelt in dem mit Oskar Negt verfaßten Werk Geschichte und Eigensinn (1981), fand frucht­bare und folgenreiche Resonanz in einer kritischen Kulturgeschichte.

Mit der im Jahr 2000 erschienenen zweibändigen Chronik der Gefühle hat Kluges Schaffen einen weiteren Höhepunkt gefunden; frühere Arbeiten aufnehmend, be­eindruckt der Chronist durch die schier unerschöpfliche Vielfalt seiner Themen und Formen. Alexander Kluges Werk lehrt die Nähe von Geschichten und Ge­schichte. Es regt mit seiner ausgeprägt historischen Perspektive wie in seiner wa­chen Zeitgenossenschaft Leser und Zuschauer zu ungewohnter, unbequemer Wahrnehmung an, fordert unsere Mündigkeit heraus und fördert unsere Orientie­rung in der aktuellen Medienwelt.

Förderpreisträger: Mikhail Degtjarev und Kirill Timofeev (St. Petersburger Cello-Duo)

Jury-Begründung zur Vergabe des Lessing-Preises für Kritik 2000 an Karl Heinz Bohrer

Das Werk des 1932 geborenen, in Paris lebenden, in Bielefeld lehrenden Karl Heinz Bohrer zeichnet sich durch seine Originalität, geistige Unabhängigkeit, kritische Schärfe und sprachliche Prägnanz aus. Die umfangreiche Bibliographie seiner Schriften zeigt ein beeindruckendes Spektrum von Themen.

Bohrer verkörpert einen Typus des Kritikers und Forschers, dessen Arbeit weit mehr als Beruf, nämlich Berufung ist. Der anerkannte Gelehrte, hervorgetreten auch als Essayist und Herausgeber des Merkur, läßt sich der Denkungsart nach keineswegs unmittelbar mit Lessing vergleichen, doch erinnert er an den deutschen Aufklärer in seinem Nonkonformismus, seiner polemischen Kraft, seinem Scharfsinn und Witz. Bohrers großes Thema ist die Ästhetik, deren Begriff er wesentlich, aber keineswegs allein aus der Literatur der Moderne gewinnt und deren künstlerische Autonomie er gegen alle modischen Verwässerungen und gesellschaftlichen Nivellierungen verteidigt. Ein so verstandener ästhetischer Eigensinn will weder religiösen noch sozialen Vorgaben mehr folgen und in keinem der geschichtsphilosophischen Konzepte aufgehen.

Aus dieser Unversöhnlichkeit zwischen künstlerischen und gesellschaftlichen Ansprüchen heraus greift Karl Heinz Bohrer mit dem Mut, sich unbeliebt zu machen, immer wieder auch in die politischen und kulturellen Debatten der Gegenwart ein. Themen wie die Wiedervereinigung, den deutschen Provinzialismus oder das moralistische, politisch korrekt sich dünkende Bewußtsein, hat er so um seine im besten Sinn des Wortes anstößigen Einsichten bereichert.

»Erst indem man allen Trostes bar zu leben gezwungen ist«, schreibt Bohrer einmal, »wird das besonnene, vernünftige und moralische Verhalten zum Prinzip ohne Grund.« Mit Karl Heinz Bohrer wird ein kontroverser und unbequemer Denker geehrt, dessen Werk eine Herausforderung darstellt – nicht nur an Literaturwissenschaftler und Philosophen.

Förderpreisträger: Michael Maar

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